Blick 04/22

Blick ins Heft 4/22

04/22 Dezember 2022 bis März 2023

9,40 EUR (D) | Ausgabe 68

Diemoderne Zucht und ihreFolgen!

ZwischenHypermobilität undPSSM

Jahrgang XVIII | ISSN 1860-3963 ISBN 9783-9818794-76

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Liebe Leserinnen und Leser,

Editorial

Pferde zahlen oft mit ihrer Gesundheit dafür, dass ihnen spek takuläre Bewegungen in die Wiege gelegt wurden. Wir schildern in diesem Heft, was dieses „immer spektaku lärer“ für die Pferde bedeutet und welche Krankheiten da mit einhergehen können. Doch solange es einen Markt, also potenzielle Käufer für solche Pferde gibt, werden diese auch weiter gezüchtet werden. Einen Aspekt haben wir nicht herausgegriffen, doch er gehört selbstverständlich zum Gesamtbild: Es gibt so viele Züchter, die mit Bedacht und Verstand züchten, ihre Pferde gesund und in Ruhe aufwachsen lassen. Auch das hat seinen Preis: für den zukünftigen Käufer. Diese Züchter haben es schwer, ihre Pferde zu einem reellen Preis an den Mann oder die Frau zu bringen. Denn trotz aller guten Vorsätze ist manchem Pferde käufer die eigene Geldbörse dann eben doch näher als eine pferdegerechte Aufzucht. Auch hier gilt: Solange der Markt und die Käufer so sind, wie sie sind, wird es für die Pferde nicht besser. Es liegt also an jedem Einzelnen von uns, wenn er auf der Su che nach einem Pferd ist, die verantwortungsvollen Züchter zu unterstützen und dafür auch tiefer in die Tasche zu grei fen .

Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht Ihnen Ihre Claudia Sanders

Pferd mit Gesprächsbedarf. Orgulloso und Claudia Sanders. Foto: Tom Sanders

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Die moderne Zucht: Zwischen Hypermobilität und PSSM

Editorial (Claudia Sanders)

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Grundlagen, Probleme und Ursachen Blick in die Literatur: Pferdezucht (Cora von Hindte-Mieske) Quo vadis, moderne Pferdezucht? (Astrid von Velsen-Zerweck, Barbara Schulte)

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Das Fundament: Eine gute Basis für ein gesundes Leben (CordWassmann, Michaela Wieland-Findeis, Waltraud Böhmke) Leichter gefordert als getan: Eine Gesundheitskarte für Pferde (Dr. Diana Krischke) Popular Sires – Fluch und Segen der Zucht mit populären Deckhengsten (Dr. Peter Richterich, Karin Link) Ein Fohlen von der eigenen Stute (Karin Kattwinkel) Mit viel Engagement: Retten bedrohter Pferderassen (Dr. Diana Krischke) Wo fängt Qualzucht an? (Nils Michael Becker) Rassen Das Englische Vollblut: Die Rasse, die die Welt veränderte (Cora von Hindte-Mieske) Der Trakehner – zwischen Tradition und Moderne (Lars Gehrmann) Pura Raza Española: Menschenbezogen, arbeitswillig und intelligent (Arabel Ataya) Der Lusitano: Vielseitiges Arbeitspferd (Leonie Bühlmann)

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Inhalt

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Der Haflinger (Conny Röhm) Das Islandpferd (Conny Röhm)

Das Arabische Vollblut (Conny Röhm, Nils Ismer)

Die Kaltblutrassen (Conny Röhm)

Der Criollo (Conny Röhm) 70 Das American Quarter Horse (Conny Röhm, Christine Petersen) 72 Das Friesenpferd (Conny Röhm) 75 Der Achal-Tekkiner (Anja Beran, Conny Röhm) 77 Berberpferde – einst Kriegspferde, heute exotische Rarität? (Dr. Diana Krischke) 80

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Probleme und Krankheiten Lampenaustreter mit Handicap: Hypermobile Pferde (Sabine Ellinger, Michaela Wieland-Findeis)

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Zwischen PSSM und PSSM2: Vererbte Erkrankungen der Muskulatur (Tina Löffler) Wenn„Kleinigkeiten“ krank machen: OCD (Dr. Uta Delling) Das Warmblood Fragile Foal Syndrome (Dr. Peter Richterich, Bärbel Gunreben) Hyperkaliämische periodische Paralyse: HYPP (Antje Becker) ECVM: Halswirbeldeformation und Folgen (Dr. med. vet. Katharina Ros)

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Allerlei Neues aus der Wissenschaft: Naughty by Nature? (Dr. Diana Krischke)

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Serie: Das Auge schulen (Karin Link und Jan Nivelle)

Adventskalender 2022

Fair zum Pferd-Campus-Programm

Alles was Recht ist: Einblick in die Unterlagen früherer Tierärzte (Nils Michael Becker) Glosse Mr.P. & Me: Beziehungsstatus mit Spezialeffekten

Impressum

Vorschau Heft 1/2023

Foto Titelbild und Inhaltsverzeichnis: www.slawik.com Redaktionsanschrift: Birkenweg 10, 57629 Mörsbach, Tel.: 02688/988 65 38 Die Namen in Klammern bezeichnen die Autoren oder Interviewpartner des jeweiligen Artikels.

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Foto: www.slawik.com

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„Den Sieg erlangt nicht immer das beste Pferd, sondern das am besten erzogene, am sorgsamsten trainierte und am geschicktesten gerittene.“ Gustav Schwarznecker in „Racen, Zucht und Haltung des Pferdes“, 1884

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Blick in die Literatur

Mecklenburger. Foto: www.slawik.com

Blick in die Literatur: Pferdezucht

„Pferde züchten heißt in Generationen denken.“ Ein uralter Züchtergrundsatz, den wohl jeder, der sich mit Pferdezucht beschäftigt, irgendwann schon einmal gehört hat. Diese sechs Wörter enthalten die Essenz allen züchterischen Wirkens: dass bei der Zucht von Pferden nichts von heute auf morgen geht, dass es keine Abkürzun gen gibt und auch nicht geben darf, dass Züchten in erster Linie etwas mit Verant wortung zu tun hat – gegenüber den Tieren, die „erzüchtet“ werden und gegen über den Menschen, die diese „Zuchtprodukte“ erwerben. Und gegenüber dem züchterischen Erbe, das viele Generationen aufgebaut und den heutigen Züchtern hinterlassen haben. Treffend bringt all dies der spätere Preußische Oberlandstallmeister Burchard v. Oet tingen (1850–1923) in seinem Hauptwerk „Die Zucht des edlen Pferdes in Theorie und Praxis“ (1908) zum Ausdruck: „Die Pferdezucht ist anerkanntermaßen die schwierigste Zucht unserer Haustiere. Darwin behauptet, daß nur wenige eine Vorstellung davon ha ben, was für ein Grad von natürlicher Befähigung und wieviel Jahre der Übung dazu ge hören, um nur ein geschickter Taubenzüchter zu werden. Und wieviel schwerer, kompli zierter und vor allem langwieriger ist die Pferdezucht! Zur Beurteilung der Paarungs-Re sultate ist nicht nur lange Zeit, sondern auch ein scharfes Auge und ein unparteiisches Nachdenken darüber erforderlich.“

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Blick in die Literatur

In den Zeiten vor dem Aufkommen der Motorisierung, als Pferde noch ein unabkömm licher Teil der Arbeitswelt waren, wogen züchterische Fehlentscheidungen ungemein schwer. Das„Denken in Generationen“ war deshalb nicht nur ein hehrer Vorsatz, sondern akute Notwendigkeit. Die deutsche Zucht lag vor allem in Norddeutschland hauptsäch lich in bäuerlicher Hand, wobei auf manchem Hof ein Stutenstamm seit Generationen in der Familie war und wie ein Augapfel gehütet wurde. In dem von dem Schriftsteller Arthur-Heinz Lehmann (1909–1956) herausgegebenen Buch „Das Glück dieser Erde“ (1949) gibt es davon eine lebendige Schilderung: „In den Photoalben der Familie sind neben den Bildern von Vätern und Großvätern die Bilder der alten Stammstuten ein- geklebt. Da sind im Hoyaschen wie im Kehdingschen, in Lüneburgischen Landen wie im Lande Wursten Bauernfamilien, die durch einen Zeitraum von über hundertfünfzig Jahren den Stammbaum ihrer Mutterstuten neben dem Stammbaum ihrer eigenen Vor fahren nachweisen. Und oft mag es vorkommen, daß ein Bauer auf einer Stute zur Deck station reitet, auf deren Urmutter sein Urvater den gleichen Weg vor hundert Jahren geritten ist.“ Eine Gelegenheit, die deutschen Landespferdezuchten in seltener Vollständigkeit zu stu dieren, bot 1910 die DLG-Ausstellung in Hamburg, auf der Pferde aus allen deutschen Zuchtgebieten ausgestellt wurden. Der Hippologe Gustav Rau (1880–1954) lieferte auf dieser Grundlage mit „Die deutschen Pferdezuchten“ (1911) ein Werk, das die ein zelnen Zuchten eingehend analysiert und mit den Pedigreestudien der ausgestellten Pferde einen einmalig detaillierten Überblick über den Status quo der deutschen Pfer dezucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt. Das ist umso interessanter, als es den heutigen „Einheitswarmblüter“ noch nicht gab: Pferde aus unterschiedlichen Zuchten unterschieden sich in Exterieur und Rassetyp noch sehr deutlich voneinander. Zu die ser Zeit war das Zuchtziel in den meisten Zuchten ein mittelschweres Warmblut mit je nachdem höherem oder niedrigerem Vollblutanteil, ein vielseitiges Gebrauchspferd. So definiert beispielsweise die Hannoversche Stutbuchgesellschaft das Zuchtziel um 1900: „Ein Pferd, geeignet für die Truppe, Kürassiere und Artilleriestangenpferde, auch mittle rer Karossier mit guten regelmäßigen und schaffenden Gängen sowohl in der Trabbewe gung als auch im Galopp. Ein gutes Temperament, ein guter Magen. Blut muß mit Masse in richtiger Verbindung stehen. (...).“ Ins Schwärmen gerät Gustav Rau bei den auf der DLG ausgestellten hannoverschen Halbblutstuten, die dem sehr nahekommen: „Das sind die mächtigen, untersetzten Kastenstuten, bodenständig, robust, Pferde voll enormer Masse, Breite und Tiefe, auf starken, korrekten Säulen von Beinen und Gelenken. Trotz ihrer Masse bewegen sie sich leicht und frei, zeigen viel Nerv und Schneid, wenn sie ‚ ge weckt‘ werden.“ Gustav Rau, Hans Joachim Köhler, Christian Freiherr v. Stenglin: Chronisten der Landespferdezuchten

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Blick in die Literatur

Noch über 60 Jahre später existiert dieser Pferdetyp im hannoverschen Zuchtgebiet, was der Hippologe Hans Joachim Köhler (1917–1997) in „Hannoversche Pferde“ (1977) nicht zuletzt der Scholle zuschreibt: Sie sei „pferdefreundlich, kaliberbildend und die Ro bustheit fördernd. Daher ist der Hannoveraner von jeher gezwungen gewesen, ständig, aber wohldosiert zu veredeln, um Knochenstärke und Wuchtigkeit in Maßen zu halten und die Härtegrade nicht absinken zu lassen. Kaum anderswo in der Welt gibt es noch so viele Gewichtsträger im Huntertyp, (...) so viele solide, robuste Mutterstuten, so überwie gend große, wohlgeformte Gelenke und korrekte Bewegungen wie hier.“ Allerdings wa ren diese Eigenschaften den entschiedenen Bemühungen zu verdanken, die Zucht nach einer Phase übermäßiger Veredlung (der sogenannten Vollblutperiode) wieder in „soli dere“ Bahnen zu lenken. Durch den Niedergang der Mecklenburger Zucht durch über mäßige Vollblutnutzung war man in Hannover gewarnt und konnte das Ruder recht zeitig herumreißen. „1840 hatte sich die Zahl der Hengste im Landgestüt (Celle, Anm. d. Red.) verdoppelt, verglichen mit dem Stand von 1800. Jeder dritte Beschäler war um diese Zeit ein englischer Vollbluthengst (...)“, schreibt der Celler Landstallmeister Chris tian Freiherr v. Stenglin, (1914–2002) in „Deutsche Pferdezucht“ (1983). „Der starke Vollblutanteil unter den Celler Hengsten hatte zur Folge, daß die Klagen über die für die Landwirtschaft zu leicht gewordene Nachzucht nicht mehr überhört werden konnten. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch standen die Leiter des Landgestüts vor dem Pro blem, gleichzeitig die Wünsche der Armee nach einem leistungsfähigen Truppenpferd als auch die Interessen der Landwirtschaft, die ein starkes, ruhiges Kaliberpferd immer dringlicher nötig hatte, zu berücksichtigen.“ Damit standen die Celler Landstallmeister nicht alleine da: Das Lavieren zwischen ver schiedenen Anforderungen und die Umkehr auf Irrwegen sorgt seit jeher dafür, dass er folgreiche Pferdezucht einer Quadratur des Kreises gleicht. Ein gutes Beispiel dafür ist heute der Anspruch vieler Warmblutzuchtverbände, ein Pferd zu züchten, das einerseits durch hohe Veranlagung sowie genügend Nerv und Intelligenz in der Lage ist, die Inter essen des Sports zu bedienen, andererseits aber so kopfklar, dass auch der Freizeitreiter seine Freude daran hat. Beides unter einen Hut zu bringen, scheint nicht ganz einfach. Burchard v. Oettingen und Siegfried Graf Lehndorff: Vollblut, quo vadis? Ein weiteres Beispiel für den Spagat zwischen unterschiedlichen Zielen ist interessanter weise die deutsche Vollblutzucht bis zum 2. Weltkrieg. In Deutschland, wo der Rennsport anders als in England keine gewachsene Tradition hatte, war die Zucht des Englischen Vollblüters nie ein Selbstzweck: Neben dem Rennsport bestand ihre Funktion in der Lie ferung von Veredlern für die Landespferdezuchten. Welche Verwerfungen mit Blick auf das Zuchtziel sich daraus ergaben, zeigt sich an der Kontroverse zwischen dem Preußi schen Oberlandstallmeister Burchard v. Oettingen und dem Landstallmeister Siegfried Graf Lehndorff (1869–1956). Letzterer war durch und durch ein „Mann des Vollbluts“: Als Nachfolger seines Vaters Georg Graf Lehndorff als Leiter des Hauptgestütes Graditz

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Englische Vollblüter. Foto: www.slawik.com

(ab 1906) verfolgte er als oberstes Zuchtziel die Steigerung der Rennleistung der dort gezogenen Vollblüter. Die Lieferung geeigneter Veredler für die Landespferdezucht war ihm erst in zweiter Linie wichtig. Sein Vorgesetzter Burchard v. Oettingen sah das ge nau umgekehrt, weshalb Differenzen nicht ausbleiben konnten. In „Ein Leben mit Pfer den“ (1956) schreibt Graf Lehndorff: „Im Anfang des Jahres 1912 war Herr von Oettingen Oberlandstallmeister geworden. Wenn mir mein Vater bisher in allem freie Hand gelas sen hatte, so wurde dieses jetzt anders. Oettingen stand auf dem Standpunkt, daß in der Graditzer Vollblutzucht mehr auf Korrektheit als auf Rennfähigkeit geachtet werden müsse.“ Dies gipfelte 1916 schließlich in einer Verfügung Burchard v. Oettingens, „(...) daß in Zukunft die Paarung der Vollblut-Mutterstuten ausschließlich unter dem Gesichts punkt vorgenommen wird, um möglichst korrektes, für die Landespferdezucht brauch bares Zuchtmaterial zu erhalten.“ Dass die Graditzer Vollblutzucht trotzdem noch Jahr zehnte später im internationalen Renngeschehen bestehen konnte, lag einzig daran, dass Graf Lehndorff einige Entscheidungen Burchard v. Oettingens rückgängig machen konnte. So unter anderem die Überstellung der Graditzerin Hornisse nach Trakehnen. Glücklicherweise, denn Hornisse wurde 1917 in Graditz die Mutter von Herold (von Dark Ronald), ohne den die gesamte deutsche Vollblutzucht undenkbar wäre. Auch den Ver lust der Stute Aversion, die „Herr von Oettingen wegen eines etwas schmalen Sprung gelenks gegen ein Pferd der Herren v. Weinberg eintauschen (wollte)“, konnte Graf Lehn dorff verhindern. Aversion brachte von Herold unter anderem den überragenden Alchi

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mist, das Aushängeschild der Graditzer Vollblutzucht zwischen den Weltkriegen. Andere ausgezeichnete Pferde musste Graf Lehndorff dagegen ziehen lassen. Etwas resigniert resümiert er in seinen Lebenserinnerungen: „Wenn ich die Aufgaben, die mir in den ver schiedenen von mir geleiteten Gestüten gestellt wurden, miteinander vergleiche, so war die in der Graditzer Vollblutzucht zweifellos die schwierigste. Nach meinen Erfahrungen vererben sich die äußeren Merkmale mit größerer Sicherheit als die Rennfähigkeit. Es hat sich aber gezeigt, dass diese viel weniger von der äußeren Erscheinung abhängig ist als von den inneren Organen (...).“ Und an anderer Stelle: „Für die Graditzer Vollblutzucht kam noch hinzu, daß man eigentlich zwei Ziele zu verfolgen hatte. Es sollte ein Höchst maß sowohl von Rennfähigkeit wie von Korrektheit angestrebt werden. (...) Da sich das aber nur in den seltensten Fällen vereinigen läßt, konnte man sich nur dadurch helfen, daß man nach beiden Seiten Konzessionen machte (...). Wahrscheinlich hätte man mehr gute Graditzer Rennpferde gezogen, wenn man die Korrektheit nicht hätte berücksich tigen müssen.“ Federico Tesio: Sieger am laufenden Band Keine Konzessionen machte dagegen der begnadete italienische Vollblutzüchter Fede rico Tesio (1869–1954) , der übrigens den Grafen Lehndorff als den „großen Gelehrten der Vollblutzucht“ schätzte. Sein züchterisches Genie war so außergewöhnlich, dass er respektvoll „Der Zauberer von Dormello“ genannt wurde – anders als durch übernatür liche Intuition schienen sich seine Zuchterfolge nicht erklären zu lassen. Wer sein Buch „Rennpferde“ (dt. 1965) liest, erkennt jedoch, dass seine Intuition mit ungeheurem Fleiß und einer nicht alltäglichen Beobachtungsgabe gepaart war. Dazu kamen das Talent und die Erfahrung, aus diesen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Pfer de aus seinem Gestüt Dormello am Lago Maggiore haben die Vollblut- und damit auch dieWarmblutzucht auf der ganzenWelt entscheidend geprägt. Allein 20 Derbysieger ge hen auf sein Konto, darunter Nearco, der einflussreichste Vollblutvererber der letzten 100 Jahre. In der weltweiten Vollblutzucht gibt es aktuell sehr wahrscheinlich kaum ein Pferd, unter dessen Vorfahren nicht wenigstens einer aus der Zucht Federico Tesios stammt. Federico Tesio war fasziniert von den Mendelschen Vererbungsgesetzen. Er betrieb um fangreiche Studien zur Vererbung bestimmter Eigenschaften, um herauszufinden, in wieweit sie einzeln oder in Kombination miteinander für Rennleistung verantwortlich waren. Für ihn war das Englische Vollblut, das er als „perfektes Beispiel einer Kreuzungs zucht“ beschrieb, ein ideales Studienobjekt: Bei der Auswahl der zur Zucht verwende ten Tiere zählt als einziges Kriterium die Rennleistung, was eine objektive Beurteilung ermöglicht. In „Rennpferde“ schreibt er: „Bei Kreuzungszuchten, auch wenn es sich um Reinzucht aufgrund sorgfältiger Auslese handelt, wird jede Eigenschaft unabhängig von der anderen vererbt.“ Er betont, dass die Kombinationsmöglichkeiten bei der Zucht von Pferden natürlich so zahlreich sind, dass es anders als beim sprichwörtlichen mendel schen„Erbsenzählen“ nicht möglich ist, das Ergebnis genau vorherzusagen. „Trotzdem ist

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