Blick 04/22

Blick in die Literatur

mist, das Aushängeschild der Graditzer Vollblutzucht zwischen den Weltkriegen. Andere ausgezeichnete Pferde musste Graf Lehndorff dagegen ziehen lassen. Etwas resigniert resümiert er in seinen Lebenserinnerungen: „Wenn ich die Aufgaben, die mir in den ver schiedenen von mir geleiteten Gestüten gestellt wurden, miteinander vergleiche, so war die in der Graditzer Vollblutzucht zweifellos die schwierigste. Nach meinen Erfahrungen vererben sich die äußeren Merkmale mit größerer Sicherheit als die Rennfähigkeit. Es hat sich aber gezeigt, dass diese viel weniger von der äußeren Erscheinung abhängig ist als von den inneren Organen (...).“ Und an anderer Stelle: „Für die Graditzer Vollblutzucht kam noch hinzu, daß man eigentlich zwei Ziele zu verfolgen hatte. Es sollte ein Höchst maß sowohl von Rennfähigkeit wie von Korrektheit angestrebt werden. (...) Da sich das aber nur in den seltensten Fällen vereinigen läßt, konnte man sich nur dadurch helfen, daß man nach beiden Seiten Konzessionen machte (...). Wahrscheinlich hätte man mehr gute Graditzer Rennpferde gezogen, wenn man die Korrektheit nicht hätte berücksich tigen müssen.“ Federico Tesio: Sieger am laufenden Band Keine Konzessionen machte dagegen der begnadete italienische Vollblutzüchter Fede rico Tesio (1869–1954) , der übrigens den Grafen Lehndorff als den „großen Gelehrten der Vollblutzucht“ schätzte. Sein züchterisches Genie war so außergewöhnlich, dass er respektvoll „Der Zauberer von Dormello“ genannt wurde – anders als durch übernatür liche Intuition schienen sich seine Zuchterfolge nicht erklären zu lassen. Wer sein Buch „Rennpferde“ (dt. 1965) liest, erkennt jedoch, dass seine Intuition mit ungeheurem Fleiß und einer nicht alltäglichen Beobachtungsgabe gepaart war. Dazu kamen das Talent und die Erfahrung, aus diesen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Pfer de aus seinem Gestüt Dormello am Lago Maggiore haben die Vollblut- und damit auch dieWarmblutzucht auf der ganzenWelt entscheidend geprägt. Allein 20 Derbysieger ge hen auf sein Konto, darunter Nearco, der einflussreichste Vollblutvererber der letzten 100 Jahre. In der weltweiten Vollblutzucht gibt es aktuell sehr wahrscheinlich kaum ein Pferd, unter dessen Vorfahren nicht wenigstens einer aus der Zucht Federico Tesios stammt. Federico Tesio war fasziniert von den Mendelschen Vererbungsgesetzen. Er betrieb um fangreiche Studien zur Vererbung bestimmter Eigenschaften, um herauszufinden, in wieweit sie einzeln oder in Kombination miteinander für Rennleistung verantwortlich waren. Für ihn war das Englische Vollblut, das er als „perfektes Beispiel einer Kreuzungs zucht“ beschrieb, ein ideales Studienobjekt: Bei der Auswahl der zur Zucht verwende ten Tiere zählt als einziges Kriterium die Rennleistung, was eine objektive Beurteilung ermöglicht. In „Rennpferde“ schreibt er: „Bei Kreuzungszuchten, auch wenn es sich um Reinzucht aufgrund sorgfältiger Auslese handelt, wird jede Eigenschaft unabhängig von der anderen vererbt.“ Er betont, dass die Kombinationsmöglichkeiten bei der Zucht von Pferden natürlich so zahlreich sind, dass es anders als beim sprichwörtlichen mendel schen„Erbsenzählen“ nicht möglich ist, das Ergebnis genau vorherzusagen. „Trotzdem ist

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