Blick 04/22

Blick in die Literatur

Noch über 60 Jahre später existiert dieser Pferdetyp im hannoverschen Zuchtgebiet, was der Hippologe Hans Joachim Köhler (1917–1997) in „Hannoversche Pferde“ (1977) nicht zuletzt der Scholle zuschreibt: Sie sei „pferdefreundlich, kaliberbildend und die Ro bustheit fördernd. Daher ist der Hannoveraner von jeher gezwungen gewesen, ständig, aber wohldosiert zu veredeln, um Knochenstärke und Wuchtigkeit in Maßen zu halten und die Härtegrade nicht absinken zu lassen. Kaum anderswo in der Welt gibt es noch so viele Gewichtsträger im Huntertyp, (...) so viele solide, robuste Mutterstuten, so überwie gend große, wohlgeformte Gelenke und korrekte Bewegungen wie hier.“ Allerdings wa ren diese Eigenschaften den entschiedenen Bemühungen zu verdanken, die Zucht nach einer Phase übermäßiger Veredlung (der sogenannten Vollblutperiode) wieder in „soli dere“ Bahnen zu lenken. Durch den Niedergang der Mecklenburger Zucht durch über mäßige Vollblutnutzung war man in Hannover gewarnt und konnte das Ruder recht zeitig herumreißen. „1840 hatte sich die Zahl der Hengste im Landgestüt (Celle, Anm. d. Red.) verdoppelt, verglichen mit dem Stand von 1800. Jeder dritte Beschäler war um diese Zeit ein englischer Vollbluthengst (...)“, schreibt der Celler Landstallmeister Chris tian Freiherr v. Stenglin, (1914–2002) in „Deutsche Pferdezucht“ (1983). „Der starke Vollblutanteil unter den Celler Hengsten hatte zur Folge, daß die Klagen über die für die Landwirtschaft zu leicht gewordene Nachzucht nicht mehr überhört werden konnten. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch standen die Leiter des Landgestüts vor dem Pro blem, gleichzeitig die Wünsche der Armee nach einem leistungsfähigen Truppenpferd als auch die Interessen der Landwirtschaft, die ein starkes, ruhiges Kaliberpferd immer dringlicher nötig hatte, zu berücksichtigen.“ Damit standen die Celler Landstallmeister nicht alleine da: Das Lavieren zwischen ver schiedenen Anforderungen und die Umkehr auf Irrwegen sorgt seit jeher dafür, dass er folgreiche Pferdezucht einer Quadratur des Kreises gleicht. Ein gutes Beispiel dafür ist heute der Anspruch vieler Warmblutzuchtverbände, ein Pferd zu züchten, das einerseits durch hohe Veranlagung sowie genügend Nerv und Intelligenz in der Lage ist, die Inter essen des Sports zu bedienen, andererseits aber so kopfklar, dass auch der Freizeitreiter seine Freude daran hat. Beides unter einen Hut zu bringen, scheint nicht ganz einfach. Burchard v. Oettingen und Siegfried Graf Lehndorff: Vollblut, quo vadis? Ein weiteres Beispiel für den Spagat zwischen unterschiedlichen Zielen ist interessanter weise die deutsche Vollblutzucht bis zum 2. Weltkrieg. In Deutschland, wo der Rennsport anders als in England keine gewachsene Tradition hatte, war die Zucht des Englischen Vollblüters nie ein Selbstzweck: Neben dem Rennsport bestand ihre Funktion in der Lie ferung von Veredlern für die Landespferdezuchten. Welche Verwerfungen mit Blick auf das Zuchtziel sich daraus ergaben, zeigt sich an der Kontroverse zwischen dem Preußi schen Oberlandstallmeister Burchard v. Oettingen und dem Landstallmeister Siegfried Graf Lehndorff (1869–1956). Letzterer war durch und durch ein „Mann des Vollbluts“: Als Nachfolger seines Vaters Georg Graf Lehndorff als Leiter des Hauptgestütes Graditz

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