Blick ins Mutmach-Heft

Abschied vom Perfektionismus

Abschied vom Perfektionismus

Abschied vom Perfektionismus und raus aus der Sorgenfalle

Typische Merkmale eines Perfektionisten: Übermäßige Planung und Organisation · ständige Aktionen und Anstrengun gen · übertriebene Detailgenauigkeit · extrem hohe Ansprüche · Überbetonung des Verstandes · Verdrängung von Emotionen · Wiederholungen, um das perfek te Ergebnis zu erreichen · übersteigertes Kontrollbedürfnis · immer den äuße ren Ansprüchen gerecht werden wollen · Nichtbeachtung der eigenen Grenzen · Entscheidungsschwierigkeiten · keine Hilfe annehmen wollen · es gibt nur zwei Sichtweisen: schwarz oder weiß, gut oder schlecht

Für einen Perfektionisten zählt nur eine vollendete Piaffe, ein makelloses Exteri eur und der Bewegungsablauf des Pferdes sollte ebenfalls großartig sein. Dazu wünscht er sich einen vorbildlichen Reitersitz, tadellose Trainings- und Haltungs bedingungen und natürlich sollte das Pferd tipptopp gesund sein. Die Ziele eines Perfektionisten sind anspruchsvoll – häufig zu anspruchsvoll, um sie in der Realität zu erreichen. „Ob sich perfektionistische Tendenzen positiv oder negativ auswirken, haben wir selbst in der Hand“, findet Sportpsychologin Dr. Gaby Bußmann. Sie betreut Athleten verschie dener Sportarten, unter anderem ist sie für die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) und das Deutsche Olympiade-Komitee für Reiterei tätig. Auch auf eigene Erfahrungen im Spitzensport kann die ehemalige Leichtathletin zurückblicken: Sie gewann 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles die Bronzemedaille im 4x400-Meter-Staffellauf. Perfektionismus definiert Gaby Bußmann als sehr hohen Anspruch an eine vollkomme ne oder fehlerfreie Ausführung.„Im Sport kann der Perfektionismus als Motor für Selbst verbesserung und Fortschritt dienen. Fehler können genutzt werden, um besser zu wer den. Besonders interessant finde ich auch, dass die Begriffe ‚gescheitert‘ und ‚gescheiter‘ sich nur durch einen Buchstaben unterscheiden“, sagt sie. Schaden tut Perfektionismus erst, wenn er zu einem reinen Schwarz-Weiß-Denken führt und die jeweilige Person kei ne positiven Dinge mehr wahrnimmt. „Für einen zu perfektionistisch veranlagten Reiter bedeutet jeder – auch so kleine – Fehler: das war jetzt komplett schlecht. Eine Sache ist nichts wert, solange sie nicht fehlerfrei ausgeführt wird. Dabei setzt sich der Perfektio nist so unrealistische Ziele, dass er diese niemals erreicht. Oft hemmt ihn sein An spruch so sehr, dass er nicht mehr in der Lage ist, in unterschiedlichen Situationen spontane und intuitive Hilfen zu geben. Diese sind gerade im Reitsport besonders wichtig, da hier sechs Beine in Einklang gebracht werden müssen“, betont Gaby Bußmann. Perfektionisten werden häufig von einem sehr kritischen inneren Dialog an getrieben. Dabei kann es nach Erfahrung der Sportpsychologin noch weitere Ausrich tungen geben: „Manche Menschen übertragen ihre Ansprüche auf ihre Umwelt und er warten, dass diese perfekt sein sollte. Andere fühlen sich durch die vermeintlichen Feh ler weniger gemocht und anerkannt. Ihr Selbstwertgefühl nimmt ab. Es ist ein sehr wich tiger Schritt, sich bewusst zu machen, dass die Achtung durch andere nicht von Perfek tion abhängt. Fehler zu machen ist menschlich. Manchmal führt Perfektionismus auch zu übertriebener Sorge oder zu krank machendem Stress.“ Dressurreiten gehört zu den Sportarten, bei denen die korrekte Ausführung einzelner Lektionen bewertet wird. „Dadurch fördert diese Sportart die Entstehung von Perfekti onismus. Bei anderen Sportarten, bei denen es zum Beispiel um Schnelligkeit geht, ist dies seltener der Fall“, erklärt Gaby Bußmann.

Social Media sorgen für ein falsches Bild Kommunikationswirtin und Coach Tania Konnerth beobachtet einen allgemeinen Ge sellschaftswandel zu Perfektionismus, zu großer Ernsthaftigkeit, aber auch zu Sorgen, Ängsten und Unsicherheiten. Aus diesem Grund bietet die Autorin und Bloggerin aus Bleckede in Niedersachsen zurzeit Mutmacherkurse speziell für Reiter an. „Aus meiner Sicht schadet Perfektionismus Pferd und Reiter auf vielen Ebenen. Besonders durch So cial Media entsteht der Eindruck, dass wir immer perfekt sein müssen. „Gepostete Fo tos zeigen aber immer nur eine Momentaufnahme und können deshalb einen fal schen Eindruck vermitteln. Sie sagen noch nichts über das wirkliche Können oder den Weg dorthin aus“, sagt sie. Ihrer Ansicht nach geht es im Internet häufig um das Verkaufen von Gegenständen oder Leistungen: „Gebe ich jemandem das Gefühl, nicht perfekt zu sein und suggeriere ihm gleichzeitig, dass Perfektion möglich ist, beginnt die Suche nach Lösungen. Diese liegen dann scheinbar in angepriesenen Ausbildungsme thoden, Ausrüstungsgegenständen oder auch in besonderen Futtermitteln. Leider führt keines dieser Dinge zur Perfektion.“ Tania Konnerth definiert Perfektion als Vollkommen heit: „Diese ist meiner Ansicht nach nicht zu erreichen. Es wird immer Kleinigkeiten ge ben, die nicht vollkommen sind. Ein Mensch, der Perfektion anstrebt, steht häufig unter hohem Druck. Diesen gibt er auch an sein Pferd weiter. Als sensible Tiere bekommen Pferde schnell das Gefühl, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt“, sagt sie. Angemessenheit und Freude wieder hervorholen Tania Konnerth findet den etwas altmodischen Begriff „Angemessenheit“ im Zusam menhang mit Perfektionismus sehr hilfreich: „Ein perfektionistisch veranlagter Mensch sollte sich überlegen, was für ihn selbst und auch für das Pferd möglich und angemessen ist. Fehler und Schwächen, die jedes Individuum mitbringt, werden heute kaum noch ak zeptiert. Nicht jedes Pferd kann Lektionen der hohen Schule erreichen, aber wir können jedes Pferd angemessen fördern. Es wäre schön, wenn sich mehr Menschen in der Pfer deausbildung erlauben würden, auf einem bestimmten Level zu bleiben. Es kann viel Freude machen, wenn sich das Pferd leicht und schön in einer gesunden Laufmanier be wegt, auch ohne Piaffen oder Passagen auszuführen.“ Sie findet, dass jeder Reiter sei nen eigenen Weg suchen sollte: „Vergleiche sind, wenn überhaupt, nur mit sich selbst

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