2/22: Blick ins Heft

Blick in die Literatur

So schreibt Steinbrecht in „Das Gymnasium des Pferdes (1884): „Einen normalen Sitz zu Pferde (...) gibt es gar nicht, denn der Reiter sitzt nur dann richtig zu Pferde, wenn der Schwerpunkt, oder vielmehr die Schwerpunktslinie seines Körpers mit der des Pferdes zusammenfällt. (...) Da aber der Schwerpunkt des Pferdes nach seiner verschiedenen Hal tung und Richtung sehr verschieden verlegt werden kann, so muß sich danach auch die Richtung des Reiters jedesmal ändern. (...) Der sogenannte normale Sitz wird erst zum schönen und eleganten, wenn das ins richtige Gleichgewicht gerichtete Pferd seinen Reiter selbst darin versetzt hat.“ Der Reiter kann mit seinem Sitz also sehr wohl Einfluss auf das Pferd nehmen, doch die größere Masse bewegt nach wie vor die kleinere. Ohne dass der Reiter zuerst das Pferd ins Gleichgewicht bringt, bleibt noch so„schönes“ Sitzen eine reine„Formsache“. Noch differenzierter analysiert es Waldemar Seunig in„Von der Koppel bis zur Kapriole“ (1943): Der Normalsitz„ist derjenige Sitz, in welchem es der Reiter erstens am leichtesten möglich ist, die eigene Gewichtsverteilung mit der Gleichgewichtshaltung des Pferdes in Einklang zu bringen, die durch oft blitzschnell wechselnde Bewegungsenergie und Bewegungsrichtung bedingt wird; zweitens derjenige Sitz, in welchem es dem Reiter am längsten möglich ist, bei richtiger Bewegung und Haltung des Pferdes, ohne nennens werte Anstrengung, (...) auszudauern. (...) Diesen beiden Forderungen (...) trägt der Nor malsitz auf geradezu ideale Weise Rechnung – immer ein Pferd vorausgesetzt, das auf nahezu ebenem Boden im Gleichgewicht, d.h. in Selbsthaltung ohne zu eilen oder sich zu verhalten, geht.“ Im Umkehrschluss bedeutet das: Der korrekte Sitz ist nicht nur der, durch den (wie Her zog Newcastle es ausdrückt) „das Pferd zum rechten Gang gebracht werden kann“, son dern auch der, der sich der in der Bewegung des Pferdes ständig verändernden Gleich gewichtssituation so anpasst, dass er eben dieses volatile Gleichgewicht nicht stört, in dem er die eigene Losgelassenheit bewahrt. Darüber, dass Losgelassenheit und Gleichgewicht die wichtigsten Kriterien eines guten Sitzes sind, herrscht in der Literatur Einigkeit. Hingegen scheiden sich die Geister an der Frage, ob beides die Bedingungen für einen guten Sitz oder aber vielmehr sein Resultat sind, sprich: Muss ein Reitschüler von vornherein losgelassen und ausbalanciert im Sattel sitzen, um einen guten Sitz ausbilden zu können, oder entwickeln sich Losgelassenheit und Gleichgewicht erst, wenn der Schüler der Form nach korrekt im Sattel sitzt? Hans v. Heydebreck (1836–1935) spricht sich in „Reitlehrer und Reiter in Uniform und Zivil“ (1928) dagegen aus, den Reitschüler von Anfang an „richtig“ hinzusetzen: „Ein un gezwungener Sitz wird am besten dadurch erreicht, dass man den Reiter ganz natürlich sitzen lässt und nur darauf hält, dass er sich breit auf das Gesäß niederlässt. Die Beine sol len aus dem losgelassenen Hüftgelenk ganz natürlich herunterhängen. Grundfalsch ist es, einen Anfänger von vornherein in die Form des vorschriftsmäßigen Sitzes pressen zu wollen. Erst völlige Losgelassenheit – dann vorschriftsmäßige Körperhaltung!“

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DS 02/22

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