2/22: Blick ins Heft

Blick in die Literatur

Damit bringt Newcastle einen Zusammenhang zur Sprache, der auch in den folgenden Jahrhunderten in der Reitliteratur ein Thema bleibt: der korrekte Sitz und das richtige Gehen des Pferdes sind unmittelbar miteinander verknüpft. Angesichts der Beschrei bung, wie dieser Sitz aussehen soll, scheint es allerdings erstaunlich, dass dem Herzog dabei die freie Beweglichkeit des Reiters ein Anliegen ist: „Ich habe aber gleichwol die Meinung nicht, daß er sich zu Pferde so starr als eine Statue, oder steinerne Säule, son dern viel mehr frey und ungezwungen erweisen solle; (...).“ Ob es sich im Spaltsitz und mit angepressten Knien„frey und ungezwungen“ sitzen lässt, sei dahingestellt und auch, ob das in der Weise gemeint ist, wie wir das heute verstehen. Dem Herzog ist dieser Punkt jedoch so wichtig, dass er ihn ausdrücklich anspricht. Für François Robichon de la Guérinière (1688–1751) , der sich in seinem Werk „École de Cavalerie“ (1733, dt. „Reitkunst oder gründliche Anweisung“, 1817) häufig auf New castle bezieht, mit dessen Ansichten er in vielen Dingen übereinstimmte, steht Unge zwungenheit als Grundvoraussetzung für einen guten Sitz tatsächlich an vorderster Stelle. Als einer der Ersten beschreibt er den Dressursitz, wie wir ihn heute kennen: „Der Kopf muss gerade und frei über den Schultern stehen, indem man zwischen den Ohren des Pferdes durchsieht; die Schultern müssen gleichfalls sehr frei und etwas nach hin ten zurückgezogen seyn, (...). Die Arme müssen bei dem Elnbogen gebogen und unge zwungen an den Leib gelegt werden, und natürlich auf die Hüften herunter sinken.“ Die Schenkel sollen „von dem Knie bis nach unten gerade und ungezwungen gehalten wer den, daß sie nahe am Pferde liegen, ohne es jedoch zu berühren (...). Die Ferse muß ein wenig niedriger, als die Spitze des Fußes stehen, jedoch nicht zu viel, weil dies sonsten den Schenkel steif erhalten würde.“ Aus dieser Beschreibung geht bereits hervor, dass der Reiter nicht mehr auf dem Spalt, sondern auf dem Gesäß sitzt, weil vom geraden und ungezwungenen Herabfallen des Unterschenkels ab dem Knie die Rede ist, was bedeutet, dass das Bein nicht steif gehal ten wird. Der Oberschenkel muss also seine natürliche Lage haben, wie es nur der Fall sein kann, wenn der Reiter auf dem Gesäß sitzt und den Oberschenkel dabei nicht an spannt – eine Haltung, die sich auch in den im Buch enthaltenen Abbildungen wider spiegelt. Immer wieder betont de la Guérinière die Ungezwungenheit als eine haupt sächliche Voraussetzung des guten Sitzes, ebenso wie die Notwendigkeit im Gleichge wicht zu sitzen, um in die Bewegungen des Pferdes eingehen zu können: „Ich verstehe durch einen schönen Anstand einen ungezwungenen Sitz, der mit einer geraden und freien Stellung verbunden seyn muß, (...). Bei allen Bewegungen des Pferdes muß man so viel als möglich in jenem richtigen Gleichgewicht bleiben, welches von dem wohl beob achteten Gegengewicht des Leibes abhängt (...).“ Das Sitzen im Gleichgewicht und ein losgelassener Sitz bedingen einander und sind in der Reitliteratur seit de la Guérinière deshalb dort, wo es um den korrekten Sitz geht, zentrale Themen. De la Guérinières Landsmann Louis-Charles Mercier Dupaty de Clam (1744–1782) erläutert in„Pratique de l‘équitation“ (1769, dt. „Theorie und Praktik der hö heren Reitkunst“, 1826) erstmals den Weg, wie dieses Gleichgewicht zu erreichen ist, in

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