BiB: Fein, feiner: Durchlässigkeit!

Blick in die Literatur

Durchlässigkeit: Die Essenz allen Reitens

Die absolute Durchlässigkeit des vollendet ausgebildeten Pferdes ist das Ergebnis des harmonischen Zusammenspiels der verschiedenen Schritte seiner Ausbildung. Sie ist sozusagen der „Kitt“, der die einzelnen Ausbildungsschritte miteinander verbindet, da sie mit ihnen in Wechselwirkung steht. Fehlt nur ein Element, kann Durchlässigkeit nicht erreicht werden – und umgekehrt. Deshalb fehlen Anmer- kungen zu diesem vielschichtigen und komplexen Thema in keiner Reitlehre. „Durchlässigkeit ist die Fähigkeit und Bereitschaft des Pferdes, auf vortreibende, ver- haltende und seitwärtstreibende Hilfen einzugehen, sie von rückwärts nach vorn und umgekehrt sowie in seitlicher Richtung durchzulassen. Sie gipfelt im Aufgeben jeden, auch des kleinstenWiderstandes gegen die Einwirkung des Reiters“, definiert Waldemar Seunig (1887–1976) Durchlässigkeit in„Von der Koppel bis zur Kapriole“ (1943). Als ihre Grundvoraussetzungen nennt er die Losgelassenheit und den Schwung: „Ebenso wie die Losgelassenheit fast unmerklich aus ihrer Vorstufe und Vorbedingung, der Zwanglosig- keit, entsteht, geht aus ihr wieder mit Hilfe des Schwunges und der das Geraderichten bezweckenden seitlichen Biegearbeit die Durchlässigkeit hervor. Sie kann ohne den von der Hinterhand ausgehenden und bis zu den Kaumuskeln vorflutenden Schwung nicht erzielt werden.“ Der von Seunig erwähnten „seitlichen Biegearbeit“ kommt dabei doppelte Bedeutung zu: einerseits schafft sie, indem sie das Geraderichten fördert, überhaupt erst die Voraus- setzung dafür, dass der Schwung ungehindert – gerade – durch den Körper des Pferdes hindurchgehen kann, was eine Bedingung für das Erreichen von Durchlässigkeit ist. An- dererseits ist sie ein unfehlbares Mittel, um festzustellen, ob ein Pferd tatsächlich durch- lässig ist: „Eine sehr sichere Kontrollmöglichkeit der Durchlässigkeit eines Pferdes ist die Beibehaltung von Biegung und Stellung in Seitengängen. Jede Schwierigkeit im Genick und jede unbeseitigte Steifheit auf einer Seite wird sich sofort in einer falschen Biegung, Stellung oder im Verwerfen im Genick oder Hals zeigen“, schreibt Brigadier Kurt Alb- recht (1920–2005) in„Reiterwissen“ (1996). Warum aber ist Schwung eine unabdingbare Voraussetzung für Durchlässigkeit? Oder andersherum gefragt, warum ist Durchlässigkeit ihrerseits eine Voraussetzung für Schwung? Tatsächlich steht beides miteinander in Wechselwirkung, wobei – zumindest in der Reiterei deutscher Prägung – die halbe Parade das verbindende Element ist. Die Wirkung des einen auf das jeweils andere stellt Kurd Albrecht von Ziegner (1918– 2016) in „Elemente der Ausbildung“ (2001) als einen Kreislauf dar: „Der Reiter ist es, der das Pferd ausbalancieren und gegebenenfalls die notwendige Energie mobilisieren muss. Fängt er diese Energie mit den Zügeln auf, kann er sie wieder zurück zur Hinter- hand fließen lassen, wodurch sich der Kreis schließt. Dieser Vorgang entspricht im Kern eigentlich schon der halben Parade, (…). Sobald das Pferd ohne zu zögern – und ohne Widerstand – auf die halbe Parade reagiert, wird die Hinterhand zum vermehrten Un-

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